Bürokratie & Regeln: Gibt es keine, erfinde eine!

Bürokratie

Bürokratie & Regeln: Gibt es keine, erfinde eine!

Die Klage über die Überbürokratisierung hören wir auf so ziemlich jeder Podiumsdiskussion, an der wir teilnehmen. Mal sarkastisch, mal wütend, mal klagend werden die bisweilen kafkaesken Auswüchse der Bürokratie in Deutschland und Europa kritisiert. Zurecht, denn diese bürokratischen Metastasen sind eine der größten Bedrohung unserer Zukunftsfähigkeit.

Kasper Rorsted, Adidas Chef, fordert darum „ein effizienteres Europa mit weniger Bürokratie“, Telekom-Chef Tim Höttges ist der Meinung, wir seien „ein völlig überbürokratisiertes Land“, Eon-Chef Leonhard Birnbaum klagt: „Wir verwalten uns zu Tode“ und Siemens-Chef Roland Busch fordert: „Wir müssen unbürokratischer und schneller werden. Deutschland muss seine bürokratischen Prozesse hinterfragen“.

Daumen hoch und volle Zustimmung!

Aber es gibt einen Haken. Denn es gibt zwei Sorten von Überregulierung und die zweite davon wird allzu gern übersehen.

Bürokratie vor und hinter der eigenen Haustür

Die erste Sorte, über die wir uns alle einig sind, ist die politikgesteuerte Überregulierung. In Unternehmen geht extrem viel Zeit dafür drauf, alles durch die Rechtsabteilung absichern zu lassen und bloß keine Regulierungserfordernisse zu übersehen.

Compliance, also die punktgenaue Einhaltung aller Regeln, ist das Fegefeuer der Moderne. Oder wie Wolf Lotter schreibt, die „Querschnittslähmung der Führung“.

Anstatt sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie das Unternehmen zukunftsfähig gemacht werden kann, konzentriert man sich darauf, keine Fehler zu machen. All das ist extrem kontraproduktiv.

Was uns allerdings immer wieder auffällt, ist, dass Bürokratie in vielen Führungsetagen vorrangig als politikgesteuerte Überregulierung von außen erlebt wird. Die hausgemachte Bürokratie mit ihren zahllosen Regeln, die selbstverantwortliches Arbeiten lähmen und oftmals sogar noch die beste Lösung im Sinne des Kunden behindern, wird dagegen nicht so lautstark thematisiert.

 

Als positiver Abweichler und jemand, der das Thema auch intern anspricht, ist uns Herbert Diess von Volkswagen aufgefallen, der immerhin verspricht: „Wir haben der Bürokratie den Kampf angesagt, auch in der Zentrale.“

Und genau das ist der richtige Ansatz: Über die Politik können wir alle uns trefflich aufregen, aber ebenso wichtig wäre es, dort anzusetzen, wo wir tatsächlich etwas verändern können: In unserem eigenen Einflussbereich. Und dort finden wir unnötige Bürokratie in den unterschiedlichsten Ausprägungen.

Die sieben Bürokratie-Plagen

 

1. Die Kundenablenkungs-Bürokratie

Wenn unfassbar viel Zeit für interne Angelegenheiten verschwendet wird. All die Vorschriften und Instrumente, die im großen Stil dazu dienen, dass die Organisation um sich selbst kreist und nicht um den Kunden. Wie man das verhindern kann, haben wir hier geschrieben: “Der wichtigste Mensch im Raum”
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2. Die Bläh-Bürokratie

Zu besichtigen in vielen Unternehmenszentralen, die mit großer Leidenschaft ausgebaut und erweitert werden. Zentralen, die sich überall einmischen. Weil es zu viele Führungsebenen gibt, zu viele Manager, zu viele Verwaltungsangestellte, die beschäftigt werden wollen und sich ein Betätigungsfeld suchen. Parkinsons Gesetz lässt grüßen: Arbeit lässt sich wie ein Gummi dehnen – und die Verwaltung neigt dazu, sich hemmungslos auszudehnen. Je mehr Personen zusammenkommen, desto mehr Zeit wird benötigt, um sich selbst zu verwalten.
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3. Die Blockaden-Bürokratie

Wenn durch unfassbar hohen Verwaltungsaufwand jede Entscheidungsfindung verlangsamt wird. Wo  es Entscheidungen erst einmal durch 14 Abstimmungsrunden in fünf verschiedenen Komitees schaffen müssen – oder einfach im Posteingang eines Entscheidungsträgers verrotten. Es gilt das Motto: Wir machen jede Sache so kompliziert, dass keiner mehr weiß, was das ursprüngliche Problem war! Hossa!
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4. Die Risikovermeidungs-Bürokratie

Wenn zu viel Verwaltungsaufwand und ein extrem dichtes Regelwerk zu Absicherungsmentalität führen und man Mut, Gestaltungsfreude und Risikobereitschaft nur vom Hörensagen kennt. Eine Organisation, die so tickt, verkrustet unaufhaltsam. Sie wird lahm, unattraktiv und auf dem Markt irrelevant. Wir haben hierüber in unserem Artikel „die Gefahr, das Boot zu verpassen“ geschrieben.
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5. Die Trägheits-Bürokratie

Wenn die überbordende Verwaltung Hürden schafft, die jede Initiative und jede proaktive Veränderung einschränkt und sich wie ein bleierner Mantel über jeden Hauch von Veränderung legt. Sehr praktisch dabei: Wo eine Regel ist, kann Verantwortung für das Angehen längst überfälliger Veränderungen leicht abgeschoben werden. Geradezu absurd ist es, dass gleichzeitig darüber geklagt wird, dass die Mitarbeitenden veränderungsbereiter sein müssen und die Organisation agiler werden soll. Willkommen in Absurdistan!
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6. Die Interne-Politik-Bürokratie

Wo unfassbar viel Zeit und Energie darauf verwendet wird, in den „richtigen“ Meetings zu sitzen und „nützliche“ Allianzen zu schmieden, um Macht zu erlangen oder sich abzusichern. Wer zum inneren Kreis gehört, hat Einfluss. So wie Peter es in seiner Zeit an der Wirtschaftsuni Wien erlebt hat und was ihn mit Nachdruck beflügelt hat, sein eigenes Ding zu machen und anstatt Energie in politische Ränkespiele zu investieren.
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Am schlimmsten, entwürdigendsten und heimtückischsten finden wir allerdings

7. Die Entmündigungs-Bürokratie

Das ist der Hang zur bürokratischen Überregelung, der dazu führt, dass eine neue Vorschrift erlassen wird, nur weil ein Einzelner einmal etwas falsch gemacht hat. Dieser Plage sind sich Führungskräfte oft nicht bewusst.
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Weil diese Sorte ebenso heimtückisch wie verbreitet ist, wollen wir sie ausführlicher beleuchten:

Der Vernarbungsprozess

Der Hang zur internen bürokratischen Überregelung mit Entmündigungscharakter schlägt immer dann zu, wenn etwas schiefgeht. Dann besteht die ausgeprägte Neigung, daraus eine fixe Regel für alle abzuleiten: „Da trägt jemand Shorts und Flipflops im Büro? Aber das geht doch nicht! Wir brauchen eine verbindliche Kleiderordnung!“

Nein, braucht ihr nicht!

Wenn es gute Gründe gibt (z.B. Kundenkontakt), warum das nicht geht, sollte das im Gespräch geklärt werden, so dass der Mitarbeitende sich entsprechend darauf einstellen kann. Wenn gleich mit der Regelkeule für alle reagiert wird, ist das eine Überreaktionen auf etwas, das wahrscheinlich eher selten vorkommt. Eine kollektive Strafe für die „Untat“ eines Einzelnen.

Ed Catmull, Co-Founder von Pixar und vierfacher Oscar-Preisträger, sagt: „Regeln sind erniedrigend für 95 Prozent der Menschen, die sich ohnehin einwandfrei benehmen. Man sollte keine Regeln erfinden, die nur die anderen fünf Prozent im Zaum halten sollen. Wenn jemand gegen den Common Sense verstößt, sollte man das individuell klären. Das ist mehr Arbeit, aber insgesamt gesünder.“

Yes! Genau darum geht es: um den gesunden Menschenverstand.

Beim einzelnen Verstoß gegen ebendiesen genügt eine individuelle Klärung. Wenn diese Klärung unterbleibt und stattdessen eine allgemeingültige Regel für alle erlassen wird, auch für diejenigen, die sich einwandfrei benommen haben, dann ist das der Türöffner für lähmende Überbürokratisierung. Das Heimtückische daran: Sie schleicht sich langsam über Kleinigkeiten ein. Und ja, für jede kleine Regel gibt es immer gute Gründe, jedenfalls dann, wenn man nur diesen Mikrobereich, für den die Regel gelten soll, unter die Lupe legt.

Und so entstehen immer und mehr allgemeingültige Vorschriften, die bleiben – wie eine Narbe im Gewebe der Organisation.

Um in diesem Bild zu bleiben: Ihr solltet es nicht zulassen, dass aus einer kleinen Wunde eine Narbe entsteht. Erlasst nicht gleich eine Vorschrift, nur weil ein Einzelner einmal etwas falsch gemacht hat. Regeln sind nur für Situationen gedacht, die wieder und wieder, eben regelmäßig eintreten. Niemals aber für Einzelfälle!

Was blüht denn da?

Inspiriert durch Gary Hamels Buch „Humanocracy“ haben wir für euch einen kleinen Selbsttest gebaut, mit dem ihr feststellen könnt, wo genau der Bürokratieschimmel bei euch wiehert. Interessanterweise fällt es unserer Erfahrung nach umso schwerer, höhere Grade von Bürokratie zu erkennen (oder zuzugeben), je höher in der Unternehmenshierarchie Führungskräfte verortet sind. Mitarbeitende dagegen kreuzen überraschend oft hohe Werte an – und das können dann wertvolle Fingerzeige sein. Schaut einfach mal selbst:

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Kundenablenkungs-Bürokratie

Es wird zu viel Zeit für interne Angelegenheiten verschwendet.

Bürokratie Test Unternehmen

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Bläh-Bürokratie

Es gibt zu viele Führungsebenen, zu viele Manager, zu viele Verwaltungsangestellte.

Bürokratie Test Unternehmen

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Blockaden-Bürokratie

Durch hohen Verwaltungsaufwand wird die Entscheidungsfindung extrem verlangsamt.

Bürokratie Test Unternehmen

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Risikovermeidungs-Bürokratie

Hoher Verwaltungsaufwand befördert die Absicherungsmentalität und reduziert die Risikobereitschaft.

Bürokratie Test Unternehmen

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Trägheits-Bürokratie

Verwaltung und Bürokratie schaffen Hürden, die Initiative und proaktive Veränderungen einschränken und träge machen.

Bürokratie Test Unternehmen

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Interne-Politik-Bürokratie

Zu viel Energie wird darauf verwendet, Allianzen zu schmieden, um Macht und Einfluss zu erlangen oder abzusichern.

Bürokratie Test Unternehmen

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Entmündigungs-Bürokratie

Mitarbeitende sind in ihrer Autonomie und Entscheidungsfindung eingeschränkt.

Bürokratie Test Unternehmen

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Und wenn ihr noch Ideen sucht, wie ihr der hauseigenen Bürokratie an den Kragen gehen könnt, schaut mal hier:


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