
Entlernen – denn man verlernt nie aus!
Als wir anfingen Bücher zu schreiben und auf der Bühne zu stehen und Vorträge zu halten, mussten wir lernen, wie man gute Bücher schreibt und wie man gute Reden hält. Logisch.
Aber bevor wir in der Lage waren, in diesen für uns sehr wichtigen Tätigkeiten dazuzulernen, mussten wir erst einmal etwas tun, was nicht intuitiv ist: Wir mussten erst einmal gründlich verlernen, was wir an der Uni und in unseren Jobs in Beratungsunternehmen über das Schreiben und Präsentieren gelernt hatten.
Denn so gut wie alles, was dort als gut und richtig gilt, sorgt im Buchmarkt für Flops und auf der Bühne für Gähnen. Wir hatten gelernt: Bring Fakten, erzähl keine Geschichten! Jetzt wissen wir: Ohne richtig gut erzählte Geschichten liest und hört keiner die wichtigen Fakten. Wir hatten gelernt: Sei fachlich, nicht persönlich! Jetzt wissen wir: Erst der persönliche Bezug weckt das Interesse für das Fachliche. Wir hatten gelernt: Nutze Powerpoints mit Balkendiagrammen, Kuchen-Charts, Prozessdiagrammen. Jetzt wissen wir: Reduzierte Folien im Stile von Bühnenbildern sind die maximale Informationsdichte, wenn wir das Publikum nicht von der Rede ablenken wollen.
Nicht VERlernen, sondern ENTlernen
Im neuen Kontext ist verlernen erst einmal wichtiger als lernen. Oder um es präziser zu sagen: nicht VERlernen, sondern ENTlernen. Uns die gelernten, aber nun nicht mehr tauglichen Verhaltensmuster wieder abzutrainieren, hat eine ganze Weile gedauert und es war eine ziemliche Herausforderung.
Der Ökonom John Maynard Keynes hat es so ausgedrückt:
„Die Schwierigkeit liegt nicht so sehr in den neuen Gedanken als in der Befreiung von den alten.“
Zwei Beispiele
Beispiel eins: Das Paradigma der Organisation als pyramidale Struktur mit dem obersten Chef an der Spitze und darunter die verschiedenen Hierarchieebenen, ist der ganz normale Standard. Das haben wir so gelernt, die Mehrzahl der heutigen Chefs hat in solchen Strukturen Karriere gemacht. Und dieses gelernte Organisationsdesign wieder zu entlernen? Fällt extrem schwer!
Aber genau das ist notwendig, denn die hierarchischen Strukturen sind ungeeignet, um mit der extremen Veränderungsgeschwindigkeit in den Märkten mitzuhalten.
Beispiel zwei: Das alte Prinzip der Berieselung der Kunden mit Werbebotschaften hat den Zenit seiner Wirksamkeit schon lange überschritten. Die vielen Pop-ups, TV-Spots, Plakate, Anzeigen, Banner, Flyer und Beilagen, diese plumpen “Kauf-mein-Produkt-jetzt!”-Botschaften, nerven ohne Ende! Deshalb werden sie ignoriert durch Channel Hopping, Bierholen in der Werbepause, Wegschalten, Ignorieren, Weiterklicken oder Adblocking. Aber anstatt das penetrante Reindrücken von Werbebotschaften endlich zu unterlassen, wird vielerorts in tumber Ignoranz die Schlagzahl erhöht: noch mehr Werbung, noch mehr Werbedruck. Das hat ja schließlich in der Vergangenheit funktioniert. Dieses Vorgehen zu entlernen? Fällt extrem schwer!
Drei Schritte, damit es endlich anders wird
Gut, aber wie gelingt es am besten, zu entlernen und Platz zu schaffen für das Neue?
Wir sehen drei Schritte:
Erstens – Verstehen
Im ersten Schritt geht es darum, überhaupt erst zu verstehen, dass bestimmte alte mentale Modelle nicht mehr relevant oder wirksam sind. In seinem Kern ist das Entlernen die Kunst, überholte mentale Modelle zu stoppen. Das wiederum bedeutet, Praktiken, Rituale oder Verhaltensweisen zu identifizieren, die in der Zukunft nicht mehr so wertvoll sind wie in der Vergangenheit. Das erfordert Nachdenken und jede Menge Selbstreflexion, denn unsere mentalen Modelle sind uns in der Regel gar nicht bewusst. Sie sind das sprichwörtliche Wasser für die Fische. Und wie ein Fisch das Wasser vor seinen Augen nicht sieht, so sind auch wir oft blind für die Welt direkt vor unseren Augen.Wie also kann man dafür sorgen, das Wasser direkt vor den Augen wieder zu sehen?
Wir hätten da einen Vorschlag: Wie wäre es, am Ende eines jeden Quartals eine Reflexion zu machen – und zwar in drei Kategorien: Was lief in abgelaufenen Quartal gut? Welche etablierten Praktiken haben nur unzureichend oder gar schlecht funktioniert? Was würden wir uns stattdessen wünschen?
Zweitens – Aufhören
Die Frage „Was würden wir uns stattdessen wünschen?“ ist der Anstoß, um sich auf die Suche nach einem neuen Modell zu machen. Wenn das neue Modell gefunden ist, das die Ziele im neuen Kontext besser erreichen kann, wartet eine weitere Herausforderung: Wir müssen das Alte loslassen und eine klare Linie ziehen. Um bei der nervenden “Kauf-mein-Produkt-jetzt!”-Botschaft zu bleiben: Es bedeutet den endgültigen Abschied von der Strategie der aufdringlichen Belagerung eines widerwilligen Publikums. Die klare Linie heißt: Wir lassen das jetzt sein. Schluss. Aus. Und wir ersetzen es durch eine Praxis, die auf Authentizität und Wertschätzung fußt und die Monologe durch Dialoge auf Augenhöhe ersetzt.
Drittens – Anfangen
Im nächsten Schritt geht es dann darum, die neuen Gewohnheiten und Praktiken zu festigen. Natürlich gibt es eine starke Tendenz, auf die alte Denkweise und damit auf die alte Handlungsweise zurückzugreifen. Deshalb ist es nützlich, Trigger zu erstellen, die uns darüber informieren, mit welchem Modell wir gerade arbeiten. Nehmen wir als Beispiel das Thema ‚Social Media’ als Plattform für die Kommunikation mit Kunden. Hier könnte der Trigger sein: Bevor ich den Send-Publish-Veröffentlich-Button drücke, beantworte ich mir die Frage, ob der neue Post, den ich gerade für unsere Online-Kanäle erstelle, dem neuen Anspruch genügt. Diese Messlatte dient dazu, den Rückfall in alte mentale Modelle zu verhindern.
Das plastische Gehirn: wenn Radfahren nicht mehr geht
Entlernen ist dann eine extrem nützliche, ja notwendige Fähigkeit, wenn sich das Umfeld und die Bedingungen sehr schnell und sehr gründlich ändern. Also genau jetzt und in fast allen Branchen!
Die gute Nachricht ist, dass Entlernen trainiert werden kann. Aber das geht weder einfach noch schnell! Wie sehr wir von unseren gelernten mentalen Modellen dominiert werden und wie wir dann vom einen auf den anderen Tag schlagartig das Alte entlernt und durch das Neue ersetzt haben können, das könnt ihr in einem sehr sympathischen Experiment von Destin Sandler und seinem „Rückwärts-Hirn-Fahrrad“ in Aktion sehen: Das Video zeigt sehr eindrucksvoll, dass Entlernen und Neulernen keine linearen Prozesse sind.
Von Peter Drucker stammt die Aussage:
„Wir investieren eine Menge Zeit, Führungskräfte zu lehren, was sie zu tun haben. Wir verbringen zu wenig Zeit damit, ihnen beizubringen, was sie sein lassen sollten. Die Hälfte der Führungskräfte, die ich getroffen habe, muss nicht lernen, was sie zu tun hat. Die Führungskräfte müssen lernen, was sie nicht mehr tun sollten.“
Ja, das ist nur allzu wahr. Das Entlernen ist ein extrem nützliches Werkzeug nicht nur für Führungskräfte, sondern für jeden.