
Warum Perfektionismus das Gegenteil von Freiheit und Lernen ist
Der Lehrer eines Keramikkurses teilte seine Klasse zu Semesterbeginn in zwei Gruppen ein. Die Arbeiten der Schüler in den beiden Gruppen sollten am Ende des Semesters unterschiedlich beurteilt werden:
- Gruppe A sollte anhand der Qualität der Keramiken beurteilt werden.
- Gruppe B anhand der Quantität, also anhand der Menge der produzierten Keramiken: Die Bestnote in dieser Gruppe sollte bekommen, wer 50 Pfund oder mehr an Keramiken abliefert, die zweitbeste Note, wer zwischen 40 und 50 Pfund abliefert, usw.
Was am Ende des Semesters passierte, könnte euch überraschen: Die besten Werke, also die Werke mit der höchsten Qualität und Ästhetik, kamen aus der Gruppe B, der Quantitäts-Gruppe!
Quantität schlägt Perfektionismus
Diese wahre Begebenheit beschreiben David Bayles und Ted Orland in ihrem Buch „Kunst und Angst“. Die Episode demonstriert sehr gut, wie Kreativität, also das Erschaffen von Neuem, funktioniert.
Perfektionismus leitete Gruppe A. Der hohe Anspruch, es perfekt zu machen und sicherzustellen, dass „der erste Schuss sitzt“, bremste die Originalität der Studenten. Da sie nur einen Versuch hatten, setzten sie auf das Bewährte.
Sie neigten zum Verkopfen und hatten einen perfektionistischen Anspruch an ihre Arbeit. Das verhinderte das Ausprobieren und kreative Herumspielen. Im Ergebnis waren die Arbeiten dieser Gruppe wenig originell und eher auf der sicheren Seite.
Gruppe B konzentrierte sich darauf, möglichst viele verschiedene Werke zu produzieren und arbeitete frei von Urteilen und Erwartungen hinsichtlich der Qualität. Sie gaben ihrer Intuition, dem Machen, Ausprobieren und Herumspielen Vorrang vor dem Intellekt. Im Ergebnis waren unter ihren Keramiken auch solche von deutlich höherer künstlerischer Qualität und Ästhetik.
So gesehen ist das nachvollziehbar. Klar ist aber auch: Das widerspricht traditionellen Überzeugungen!
Perfektionismus ist bei originellen Denkern selten zu finden
Adam Grant schreibt in seinem lesenswerten Buch “Nonkonformisten”:
„Nach landläufiger Meinung sieht der Zusammenhang zwischen Quantität und Qualität so aus, dass bessere Arbeit nicht durch ein Mehr, sondern durch ein Weniger entsteht, aber das stimmt einfach nicht. Tatsächlich ist die Quantität der verlässlichste Weg zur Qualität und zu neuen Ideen.“
Grant zitiert den Stanford-Professor Robert Sutton, der sagt:
„Originelle Denker lassen sich viele Ideen einfallen, die seltsame Mutationen sind, Sackgassen und totale Fehlschläge. Aber dieser Preis ist es wert, weil sie auch einen größeren Pool von Ideen erzeugen – vor allem neuartige Ideen.“
Erfolgreiche Kreative produzieren nicht, weil sie erfolgreich sind, sondern sie sind erfolgreich, weil sie produzieren.
Das liegt auch an dem zufälligen Charakter von Kreativität: Je mehr zufällige Kombinationen jemand herstellt, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass etwas wirklich Besonderes dabei ist.
Die Quantität von Ideen führt zur Qualität von Ideen
Der berühmte Fotograf Chase Jarvis schlägt dazu folgenden Prozess vor:
Tag 1: Beginne eine kreative Tätigkeit
Du entwirfst beispielsweise einen Text. Dann beendest du diese Tätigkeit mit einem Ergebnis – und zwar ohne dieses Ergebnis zu beurteilen.
Tag 2: Wiederhole das, was du an Tag 1 gemacht hast
Wiederholen bedeutet aber nicht, das Alte zu verbessern, sondern neu anzusetzen. Schreibe also einen neuen Text.
Tag 3: Wiederhole das, was du an Tag 2 gemacht hast
Setze neu an. Schreibe einen neuen Text.
Tag 4: Wiederhole – nicht verbessere – das, was du an Tag 3 gemacht hast
Schreibe einen neuen Text.
Tag 5: Triff eine Entscheidung, welchen der Entwürfe aus Tag 1 bis Tag 4 du verwenden willst
Und vor allem: Beschließe, dass es so, wie es ist, gut ist und mache weiter mit einer anderen Aufgabe oder einem anderen Projekt. Es mag nicht perfekt sein, aber mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit wird es gut genug sein.
Perfektionismus verhindert Kreativität
Man kann sich nicht „anstrengen“, kreativ zu sein. Mehr noch: Perfektion zerstört Kreativität, denn sie verleitet dazu, den sicheren Weg zu wählen und nicht den, der scheitern könnte. Alles Suchende, Unsichere, Tastende wird gemieden. Die Bereitschaft sinkt, Risiken auf sich zu nehmen, neue Möglichkeiten auszuloten.
Das lässt sich auch auf die Ebene des Unternehmens übertragen: Wer im Management die Qualität kreativer Tätigkeiten damit anreizen will, dass die Messlatte auf Perfektionslevel gelegt wird, hat schon verloren. Ein solches Vorgehen befördert Imitation – aber keine Originalität. Der Aufbruch zu wirklich neuen Ufern lässt sich so nicht bewerkstelligen.
Auch Meister produzieren Mist
Das bedeutet: Unternehmen müssen die Bedingungen schaffen, unter denen Kreativität gedeihen kann. Das funktioniert nur mit Mut zu Irrtum und Irrweg!
Klingt logisch, ist aber in vielen Unternehmen eher Fiktion als Realität. „Keine Überraschungen bitte!“, lautet das Credo. Man setzt auf den Sieg des Fehlerlosen. Perfektion ist das, was belohnt und befördert wird – nicht der Mut zum Ausprobieren.
Das hat nicht nur Auswirkungen auf die Unternehmenskultur – Stichwort Lernkultur – sondern auch auf das Verhalten der Menschen: Die Mitarbeitenden werden darauf gedrillt, kreative Irrtümer und Irrwege tunlichst zu vermeiden. Stattdessen versucht man, durch die Perfektionierung des bisherigen Vorgehens die eigene Zukunftsfähigkeit absichern.
Viel Glück dabei!
Je ausgeprägter das Bemühen, umso härter wird der Aufprall in der Realität.
Hier ist ein Umdenken dringend erforderlich!
Jeder und jede muss ausprobieren können. Der Drang nach Neuem muss wichtiger sein als die Besitzstandswahrung. Das heißt aber auch: Nicht den „perfekten Schuss, der beim ersten Mal sitzen muss“ als Zielvorgabe auszugeben, sondern den Menschen die Möglichkeit geben, VIELE Ideen zu produzieren.
Freiräume schaffen für das Ausprobieren und Rumspielen! Ohne sofortige Wertung, ohne Beurteilung. Wenn eine Vielzahl an Ideen da ist, dann geht es erst im zweiten Schritt darum, auszuwählen.
Genau das sagt auch Dean Simonton, Psychologieprofessor an der University of California, der seit vier Jahrzehnten auf dem Gebiet der kreativen Höchstleistungen forscht:
Gewährsleute dieser These sind niemand geringeres als Pablo Picasso, Albert Einstein und William Shakespeare:
- Shakespeares berühmtestes Werke lassen sich an zwei Händen abzählen. Tatsächlich schrieb er 37 Theaterstücke und 154 Sonette, von denen viele für die ungeschliffene Prosa und unvollständige Handlungs- und Charakterentwicklung gerügt wurden.
- Pablo Picasso schuf 1.800 Gemälde, 1.200 Skulpturen, 2.800 Keramiken und 12.000 Zeichnungen – nur ein Bruchteil davon ist berühmt.
- Albert Einstein veröffentlichte hunderte von Publikationen – nur eine Handvoll dieser Publikationen hatte echten Einfluss.
Das Prinzip bleibt immer dasselbe: Der Weg zu bahnbrechenden Ideen ist mit schlechten Ideen gepflastert. Viel ausprobieren und akzeptieren, dass viele der Ideen bestenfalls mittelmäßig sein werden ist deshalb sehr viel klüger, als auf die „perfekte“ Idee zu warten – die es ohnehin nicht gibt. Perfektionismus ist eine Illusion!
Oder um es mit Jiddu Krishnamurti zu sagen, über den wir bereits an anderer Stelle geschrieben haben: